Ukraine: „Kirchen sind alle bei den Protesten präsent“

Europäische Union und Vereinigte Staaten protestieren gegen ein Gesetzespaket in der Ukraine, das Massendemonstrationen erschwert. Die Maßnahmen wurden vom Kiewer Parlament unangekündigt und handstreichartig beschlossen und richten sich offensichtlich gegen die Tausenden von Menschen, die seit zwei Monaten auf den Straßen vieler ukrainischer Städte gegen die Regierung demonstrieren, und für eine Annäherung an die Europäische Union. 15 Tage Haft sind künftig vorgesehen für Menschen, die nicht-autorisierte Stände oder Zelte an öffentlichen Orten aufschlagen; sogar fünf Jahre Haft drohen bei der Blockade von Regierungsgebäuden. An diesem Sonntag sind in Kiew 80.000 Menschen auf der Straße, um gegen das Gesetzespaket zu demonstrieren.

Boris Gudziak ist Bischof der ukrainischen Eparchie des heiligen Wladimir in Paris. Er sagte im Gespräch mit Radio Vatikan:

„Die Proteste sind viel mehr als nur eine Reaktion auf die Weigerung der ukrainischen Regierung, ein Abkommen mit der EU zu unterzeichnen. Man versteht die Lage im Land nur, wenn man weiß, was die Ukrainer im 20. Jahrhundert alles durchgemacht haben. Siebzehn Millionen Menschen kamen in diesem Jahrhundert gewaltsam ums Leben; die jetzige Bewegung tritt also nicht nur für politische Würde und Freiheit ein, sondern auch für anthropologische, psychologische, spirituelle Freiheit. Millionen von Menschen haben in den letzten zwei Monaten schon in der ganzen Ukraine an der Maidan-Bewegung teilgenommen; Maidan bedeutet übersetzt Platz. Das ist ein Phänomen, durch das die Ukrainer ihre Sehnsucht ausdrücken, auf eine andere Weise zu leben.“

Fast genauso kompliziert wie die politische Lage in der Ukraine ist die kirchliche: Es gibt hier mehrere orthodoxe und auch mehrere katholische Kirchen. Zu den Protesten verhalten sie sich, trotz Drohungen aus dem Innenministerium, einigermaßen gleich:

„Die Kirchen sind mehr oder weniger alle präsent. Am 8. Dezember haben der Ukrainische Kirchenrat und die religiösen Verbände der Ukraine eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Sie fordert den Präsidenten auf, das Volk zu hören, nicht zu Gewalt zu greifen und eine Spaltung des Landes zu verhindern. Die Kirchenführer haben alle Seiten zum Dialog aufgefordert, weil dieser der einzige Ausweg aus der Krise sei. In diesen Wochen sind Hunderte von Priestern am Rand der Proteste anwesend; sie beten und hören Beichte. Jeder Tag beginnt mit einem ökumenischen Gebet – dafür gibt es keinen Präzedenzfall! Ein öffentliches Gebet in einem Land mit mehreren Religionen und Kirchen, die aber gemeinsam handeln. Das ist ein Maidan der Freude: Ausdruck dessen, was im Evangelium steht.“

Nicht im Evangelium steht allerdings, dass das Kiewer Innenministerium prominente Bürger, die an Demonstrationen teilnehmen, einschüchtert – und dass auch Kirchen bedroht werden.

„Das ist für die griechisch-katholische Kirche der Ukraine gar nichts Neues. Im 20. Jahrhundert waren, zwischen 1945 und 1989, alle ihre Bischöfe in Haft, die Kirche existierte nur im Untergrund. Während dieser Verfolgung ging die Zahl ihrer Priester auf nur noch 320 hinunter, aber ihre Werte blieben intakt, und als sie 1989 aus dem Untergrund wieder auftauchte, hatte sie eine moralische Autorität, die einzigartig war im Land. Auch in den letzten Jahren ist sie sehr dynamisch geblieben; mittlerweile liegt die Zahl ihrer Priester wieder bei 3.000, mit einem Durchschnittsalter von 40 Jahren. Auch wenn es nur eine Minderheits-Kirche ist, zuständig für nur fünf Millionen Gläubige in einem Land mit 46 Millionen Einwohnern, so stellt die griechisch-katholische Kirche der Ukraine vielleicht den größten Organismus überhaupt in der Zivilgesellschaft dar. Die neuen Drohungen durch die Regierung sind allerdings ernstzunehmen; sie kann tatsächlich versuchen, auch die Kirchen unter ihre Kontrolle zu bringen.“   (rv 19.01.2014 sk)

Pressestelle des Radio Vatican