Tauziehen zwischen Regierung und Opposition – ein Beitrag des Online Magazins Die Welt

Der Nervenkrieg in der Ukraine hält an: An vorderster Front vermitteln die Klitschko-Brüder zwischen beiden Lagern – und verhindern so Angriffe von Polizisten. Präsident Janukowitsch sucht derweil einen Ausweg Von Gerhard Gnauck
Dramatische Stunden in der Ukraine: In der Nacht sind die Sicherheitskräfte in Kiew vorgerückt und haben verlorenen Boden zurückerobert. Im Regierungsviertel räumten sie Barrikaden aus Parkbänken, Mülltonnen und Stacheldraht. Einige der Demonstranten wehrten sich mit Reizgas und Stöcken, wurden jedoch von Mitstreitern gebremst. Offenbar wurden zwei Polizisten und mehrere Demonstranten verletzt.
Zuvor war es Boxweltmeister Wladimir Klitschko gelungen, die Sicherheitskräfte aufzuhalten. Nach Angaben seiner Partei rückten diese mit einem Traktor gegen eine Barrikade vor. Darauf habe der jüngere Klitschko-Bruder Vitali, ebenfalls Boxweltmeister, er tritt als Oppositionsführer auf – den Fahrer angesprochen und gefragt, ob er wirklich auf die Menschen losfahren wolle und warum er sein Gesicht verberge. Darauf sei der Traktorfahrer umgedreht. Ein Augenzeuge berichtete von einem anderen Brennpunkt, an dem Frauen sich vor Polizeifahrzeugen auf den Boden gesetzt und sie damit offenbar zum Stehen gebracht hätten.

Heute soll es wegen der angespannten Sicherheitslage in Kiew ein Treffen an einem Runden Tisch geben. Nachdem die drei Vorgänger des Präsidenten Viktor Janukowitsch die brutalen Polizeieinsätze der vergangenen Wochen kritisiert und gemeinsam einen diese Einsätze klärende Runde vorgeschlagen hatten, war der als autokratisch geltende Amtsinhaber schließlich darauf eingegangen. Allerdings plant Janukowitsch selbst offenbar nicht, zu diesen Gesprächen zu erscheinen, allenfalls zu einem Treffen mit seinen zwar respektierten, aber politisch kaum einflussreichen Vorgängern. Zugleich ist die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zu einer Vermittlungsmission in die Ukraine gereist und wird unter anderen Janukowitsch treffen. Auch die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland wird in Kiew erwartet. Derweil blockieren die Demonstranten trotz Eis und Schnee weiterhin den Majdan, den zentralen Platz der Unabhängigkeit in der Hauptstadt. Am Ende des Platzes haben sich Polizeikräfte postiert, um die Demonstranten in Schach zu halten. Immer wieder kommt es zu Gesprächen, in denen die Demonstranten den jungen Polizisten Tee und Butterbrote anbieten und sie beschwören, keine „verbrecherischen“ Befehle auszuführen. Das scheint in einigen Fällen auch zu funktionieren: „Wenn ich einen Befehl bekomme, werde ich als Bürger darauf reagieren“, sagte ein Polizist versöhnlich zu einem Demonstranten und schüttelt ihm die Hand.

Es blieb am Dienstag zunächst friedfertig, aber unterschwellig doch immer bedrohlich. Etwa 20 kräftige Männer, zum Teil mit Fahnen in der Hand, bauten sich vor dem Gebäude der EU-Vertretung in der Innenstadt von Kiew auf und blockierten den Zugang. „Wir werden von Tituschki blockiert“, sagte der Sprecher der Vertretung zu Journalisten.

„Tituschki“ ist die Bezeichnung für rauflustige Anhänger der Regierung, seit der Sportler Wadim Tituschko im Mai dieses Jahres zwei Journalisten tätlich angriff, wofür er eine Bewährungsstrafe erhielt. „Tituschki“ treten gerne dort auf, wo unterhalb der Schwelle des Polizeieinsatzes Oppositionelle eingeschüchtert werden sollen.

Westliche Politiker versuchen unterdessen, die drohende Konfrontation zwischen Gegnern des Präsidenten und der Polizei zu verhindern. Neben den Engagements von Nuland und Ashton warb auch US-Vizepräsident Joe Biden in einem Telefonat mit Janukowitsch um eine Entschärfung der Lage. „Er sagte, dass Gewalt in demokratischen Gesellschaften keinen Platz hat“, erklärte die US-Regierung. In Moskau appellierte Nuland bereits vor ihrer Abreise in die Ukraine an Russland, seinen Einfluss für eine gewaltfreie Beilegung des Konflikts geltend zu machen. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle rief die ukrainische Regierung auf, alles zu tun, damit die Proteste friedlich bleiben könnten. Russland lehnt Unterstützung der Initiativen westlicher Staaten ab.

Die griechisch-katholische Kirche der Ukraine wünscht sich von der EU Solidarität mit den proeuropäischen Demonstranten in Kiew. Der Generalsekretär der Bischofssynode der mit Rom verbundenen Kirche, der Kiewer Weihbischof Bogdan Dziurach, sagte am Dienstag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): „Wir hoffen sehr, dass die EU die Stimme unseres Volkes hört und kein passiver Beobachter bleiben wird.“ Er wolle glauben, dass die „Verantwortlichen in Europa unser Volk in dieser Situation nicht verraten werden – weil sich Europa sonst selbst verleugnen würde“.

Hunderttausende Ukrainer gingen auf die Straße, „weil sie sich als Europäer betrachten und zurück nach Hause gelangen wollen“, so Dziurach. Die Bürger fühlten sich durch die Regierung betrogen, weil diese das Assoziierungsabkommen mit der EU platzen gelassen habe.

Er verurteilte auch die Gewaltanwendung gegen friedliche Demonstranten vor gut einer Woche. Deshalb hätten die „Kirchen in der Ukraine ihre Stimme für die Rechte der Menschen erhoben und sich auf die Seite der Schwachen, Unschuldigen und Betroffenen gestellt“.

© Axel Springer SE 2013. Alle Rechte vorbehalten

Quelle: www.welt.de