Seine Seligkeit Sviatoslav (Shevchuk): „Wir haben niemals auf Böses, auf Unwahrheit geschwiegen“

z_den2013_0Heutzutage befindet sich die Kirche im Epizentrum der Ereignisse. Die Menschen suchen nach der Kirche, weil sie diese brauchen. Wie entspricht die Kirche diesem Gesellschaftsbedürfnis? Darüber sprechen Yuriy Chornomorets und Seine Seligkeit Sviatoslav – das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche.

Ich persönlich habe den Eindruck, dass der Papst sehr wenig und sehr vorsichtig über die Ukraine spricht. Fürchtet er den Zorn Russlands? Oder ist mein Eindruck falsch?

Ich glaube, Sie haben den falschen Eindruck. Der Papst hat genug über die Ukraine gesagt. Aber natürlich redet er so, wie es sich einem Pontifex geziemt. Er kann gewisse, konkrete Handlungen der Staatsmacht, der Regierung nicht beurteilen. Er äußert sich als Kirchenhirte, im Namen des ganzen Gottesvolkes. Zuletzt hat er sehr deutlich und konkret gesprochen, wenn Sie sich an seine vorletzte Rede beim „Angelusgebet“ erinnern. Er hat genau beschrieben, worin der innere Konflikt in der Ukraine bestand – das war ein Konflikt zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft. Ich glaube, der Papst hat eine mutige und deutliche Analyse aller Ereignisse abgegeben, die wir mit dem Maidan verbinden. Andererseits hat der Papst seinen Auftritt mit dem Begriff des Gemeinwohls abgeschlossen – einem Schlüsselbegriff der Soziallehre der Katholischen Kirche. Ich glaube, wenn wir alle auf die Worte des Papstes hören würden, dann wäre es möglicherweise leicht, viele Fehler zu vermeiden, auch die heutigen Fehler.

Warum legt die UGKK in den letzten Jahren so wenig das Zeugnis von der christlichen Soziallehre ab? Haben wir etwa das Christentum in eine magische Selbstverteidigungsweise verwandelt, während die Wahrheit des Evangeliums und unser Leben immer weiter auseinanderdriften, hat sich die UGKK damit etwa abgefunden?

Ich stimme Ihnen nicht zu. Wenn wir z. B. das letzte Jahrzehnt betrachten, dann hat unsere Kirche vielleicht am meisten in verschiedenen Botschaften, Belehrungen über die Grundlagen des Gesellschaftsaufbaus gesagt, welche dem Evangelium Christi entspringen. Es gab keine Wahlen, seien es die Präsidenten- oder die Parlamentswahlen, zu denen wir nicht einen Aufruf veröffentlicht hätten.

Es reicht, die Lehre unserer Kirche vom letzten Jahr in Erinnerung zu rufen, welche mit dem ganzen Fragen- und Themenkomplex der ukrainisch-polnischen Beziehungen verbunden war und unter der Bezeichnung „Die Tragödie von Wolynien“ bekannt ist. Unsere Kirche hat damals versucht, Regeln für das Verständnis des Patriotismus und des nationalen Aufbaus zu bezeugen.

Wenn man diese Appelle, Antworten und sogar direkte Verurteilungen liest, welche unsererseits während der letzten Monate erklangen, dann wage ich zu behaupten, dass wir niemals auf Böses, auf Unwahrheit geschwiegen haben.

Ich wandte mich mit einer besonderen Bitte und einem Appell an die Richter, dass sie sich daran erinnern, warum man sie mit „Euer Ehren“ anredet.

Natürlich, wird heute gerade die Stimme der Kirche wegen ihrer Soziallehre verständlich und interessant. Wenn nämlich die Kirche über konkrete Dinge spricht, welche das unmittelbare Leben betreffen, dann werden die allgemeinen Wahrheiten des Evangeliums verständlicher, weil sie alle im realen Leben verwirklicht werden können.

Zum Beispiel – als die Teilnehmer der friedlichen Proteste im Schnellverfahren verurteilt wurden, wandte ich mich an die Richter mit der Bitte und dem Appell, sich daran zu erinnern, warum man sie mit „Euer Ehren“ anredet – dass sie ihre Ehre nicht verlieren und gerechte Urteile fällen. Ich möchte sagen, dass diese Stimme gehört wurde, obwohl es für viele nicht einfach war.

Also, hat die Kirche nicht geschwiegen, und sie schweigt nicht.

Natürlich, ist es niemals zu viel. Deshalb sagt der Apostel Paulus zu Timotheus: „Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung“. Besonders dann, wenn außerordentliche Ereignisse oder sozial-politische Erschütterungen stattfinden, dann wird das Zeugnis der Kirche viel mehr gebraucht, als in einer ruhigen, friedlichen Zeit. Daher werden wir das Volk unterweisen und die Lehre der Katholischen Kirche bezeugen, insbesondere ihre Soziallehre.

Sind etwa unsere Politiker zu „schmutzig“ und ist die Politik zu „krank“, dass die UGKK nicht an die Möglichkeit einer wirklichen christlichen Demokratie in der Ukraine glaubt?

Die UGKK glaubt an die Möglichkeit einer christlichen Demokratie, aber sie wird nie ein Teil des politischen Prozesses werden. Wir haben wiederholt davon gesprochen, dass wir keine politische Partei und keinen einzelnen Politiker unterstützen. Aber wir versuchen, solche Christen zu erziehen, die zu einer ehrlichen Politik fähig wären.

Vielleicht, weil Sie diese Frage berührt haben, wollte ich an zwei Aspekte erinnern.

Heutzutage redet man sehr oft von der „Lustration“. Ich bin sehr darüber besorgt, wie dieses Thema in der Gesellschaft diskutiert wird. Leider besteht die Tendenz, die Lustration in eine banale Begleichung von Rechnungen zu verwandeln.

Damit von einer ehrlichen Lustration des moralischen Standpunktes eines Politikers oder Beamten die Rede sein kann, ist es notwendig, solche moralische Regeln bzw. Kriterien zu schaffen, nach denen sie stattfinden soll. Andernfalls kann die Lustration zum Werkzeug einer rücksichtlosen Menschenerniedrigung werden.

Ich glaube, dass die Kirchen in dieser Frage ihr Wort sagen sollen. Heutzutage überlegen wir und arbeiten daran, moralische Grundlagen für die Ausarbeitung eines Lustrationsgesetzes vorzuschlagen. Zum Beispiel, muss man dabei die Erfahrung anderer Länder studieren, insbesondere die von Polen. Wir sehen klar, dass jene Weise, auf welche Polen die Lustration durchführte, nicht ganz gut war. Dort hat man viele Fehler zugelassen, die wir berücksichtigen können. Wir können wirklich gewisse Regeln schaffen, die einerseits die Menschenwürde schützen, andererseits aber dabei behilflich sein würden, die politische Gesellschaft auf der Ehrlichkeit, Transparenz und Offenheit aufzubauen, damit die Reinigung nicht zu einer rücksichtslosen „Hexenjagd“ werde.

Der zweite Aspekt: Heute sehen wir, dass die neue Regierung versucht, ihre eigene Kaderpolitik zu führen. Alle Kirchen und religiöse Organisationen haben die erneuerte Staatsmacht unterstützt, sie haben von der kirchlich-moralischen Seite unsere Regierung legitimiert. Ich würde sie als Regierung der nationalen Rettung bezeichnen. Faktisch steht sie vor der Aufgabe, den ukrainischen Staat zu retten, diesen auf ein neues Niveau zu führen und das Funktionieren aller Staatsorgane zu gewährleisten, welche, wie wir sehen, zerstört wurden. Z. B., hat sie die Aufgabe, eine ukrainische Armee und andere Elemente der Staatsstruktur aufs Neue zu schaffen.

Aber die Regierung macht viele Fehler, insbesondere was die Kader anbelangt, und möglicherweise hat das mit der Frage der Lustration zu tun. Ich spreche mit vielen Leuten, die mir oft das Signal geben, dass die Kaderpolitik ohne Rücksucht auf konkrete Menschen gemacht wird. Die Kirche verteidigt immer die Person. Man muss die Beurteilung der Tätigkeit von Staatsbeamten sehr behutsam angehen. Wie haben sie in jener kritischen Zeit gehandelt? Wir alle waren Zeugen des Systems, in welchem man gezwungen wurde, absichtlich Verstöße oder Verbrechen zu begehen, um ihn dann zu kontrollieren. Also, wurde dieser Mensch zu einer Geisel des verbrecherischen Systems, weil er ein Mittäter wurde. Aber es gibt sehr viele ehrliche Leute, die sogar in jener Zeit nicht aufgaben. Ich glaube, um unsere Gesellschaft heutzutage zu erneuern, muss man solche aufrichtigen Menschen finden. Es gibt sie ja. Also, steht die Regierung der nationalen Rettung vor der Aufgabe, nicht nur den Staat, sondern auch die guten Leute und Beamten zu retten – jene gesunden Kräfte, die ein festes Moralkapital unserer Gesellschaft darstellen. Man soll die Staatsorgane und die staatlichen Strukturen wiederaufbauen, indem man sich auf derartige Menschen stützt. Wir dürfen nicht voreilig jemand verurteilen. Man soll sehr behutsam und ausgewogen vorgehen, wenn man das Urteil über einen Menschen fällt.

Zwei Identitäten kämpfen gegeneinander in der UGKK. Auf die Frage „Wer seid ihr?“ antwortete mir Kardinal Huzar eines Tages: „Wir sind Orthodoxe in der Einheit mit Rom“. Gleichzeitig sagte Seine Exzellenz Bohdan Dzyurakh: „Wir sind Katholiken des orientalischen Ritus“. Wann werde ich auf diese Frage die folgende Antwort hören: „Wir sind Christen, offen für alle in der Ukraine und in der Welt“? Wann werden wir unsere Bestimmung nicht in Rückschau auf unsere Vergangenheit, sondern auf unsere Berufung geben, Gott und den Nächsten zu dienen?   

Die Identitätsfrage ist wichtig. Aber ich meine, dass man auf sie jetzt nicht besonders achten soll. Die Identität wurde geformt und sie formt sich unter dem Einfluss verschiedener historischer und kultureller Umstände. Die Identität ist etwas, was mich so macht, wie ich bin. Das ist mein Erbe, jener genetischer Code, der mir zugeteilt wurde.

Aber der wichtigste Teil dieses Codes macht mich vor allem zu einem Christen. Wir sollen diesen Code gebrauchen und wissen, wer wir sind – als Kinder der ukrainischen Kirche, als Kinder der Kirche des Kiewer Christentums.

Trotzdem sollen wir immer nach vorne schauen. Sonst würden wir einem Menschen ähneln, der mit einem rückwärts gewandten Kopf fortschreitet. In diesem Fall besteht immer die Gefahr, entweder das Ziel nicht zu erreichen, oder mit dem Kopf hart an ein Hindernis zu stoßen.

Daher glaube ich, dass wir begreifen sollen: wir sind Christen, die eine Communio der Kirchen leben, welche wir von unseren Vorgängern geerbt haben. Als UGKK sind wir damit gesegnet, dass wir Erben des Kiewer Christentums sind und in seiner katholischen Communio leben. Deshalb können wir die Katholizität der Kirche Christi wahrnehmen, welche nach den Worten von Papst Franziskus den „Evangelismus“ an erste Stelle stellt, obwohl ich dieses Wort wegen des „-ismus“ nicht sonderlich mag. Wir besitzen diese evangelische Identität. Wenn wir heute täglich bessere Christen werden, dann werden wir bessere Katholiken, bessere Orthodoxe, bessere Kinder unserer großen Vorgänger.

Mit Seiner Seligkeit Sviatoslav sprach Yuriy Chornomorets

Pressestelle der UGKK mit Berufung auf www.day.kiev.ua