„Vatican muss gegen Russlands Völkerrechtsbruch protestieren“ – Kirchenexperte zur Rolle der Religionsführer im Ukraine-Konflikt

Von Oliver Hinz (KNA)
Lviv (KNA) Der ukrainische Religionswissenschaftler Myroslaw Marynowytsch (66) krisiert das Verhalten von Papst Franziskus und des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. in der Ukraine-Krise. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) warf er dem Papst am Mittwoch vor, einen russischen Propaganda-Begriff gebraucht zu haben. Marynowytsch gehört der griechisch-katholischen Kirche an und ist Vize-Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lviv (Lemberg) sowie Präsident des dortigen Instituts für Religion und Gesellschaft. Er war viele Jahre in einem sowjetischen Lager inhaftiert und gründete in der Ukraine neben Menschenrechtsorganisationen unter anderem den nationalen Zweig des Schriftstellervereinigung PEN-Club.

KNA: Herr Marynowytsch, was erwarten Sie von dem Gipfeltreffen zum Ukraine-Konflikt an diesem Abend in Minsk?

Marynowytsch: Wir alle in der Ukraine befürchten, dass Russlands Staatspräsident Wladimir Putin wieder den guten Willen der westlichen Politiker ausnutzen wird. Bislang sieht es so aus, dass der Kurs des Westens, Putin nicht zu reizen, von ihm als Schwäche Europas gewertet wird und ihn ermutigt, den Konflikt auszuweiten. Mir macht die Trägheit westlicher Politiker Angst, die in einer absolut anderen Realität denken.

KNA: Papst Franziskus hat die Kämpfe in der Ostukraine vergangene Woche als „Brudermord“ bezeichnet. Warum wird dies von ukrainischen Katholiken kritisiert?

Marynowytsch: Einerseits ist jeder Krieg nach christlichem Verständnis ein Brudermord. Andererseits ist dies ein Begriff, der oft von der russischen Propaganda genutzt wird, um Russlands Verwicklung in den Krieg zu verbergen. Der Begriff erweckt den Anschein, der Krieg sei ein inländischer Bürgerkrieg zwischen Ukrainern. Die Ukrainer sind sehr empfindlich für solche propagandistischen Klischees und die sichtbare Unfähigkeit des Westens, sie zu entschlüsseln. Es hat uns schockiert, diese Formulierung in der Ansprache des Heiligen Vaters zu hören.

KNA: Vatikansprecher Federico Lombardi wies die Kritik mit dem Hinweis zurück, der Papst habe seine Friedensappelle stets an alle Beteiligten gerichtet und sich für eine Vereinbarung auf der Grundlage des Völkerrechts ausgesprochen. Sind Sie damit zufrieden?

Marynowytsch: Das ist genau das, was wir vom Heiligen Stuhl erwarten: gegen jede Verletzung des Völkerrechts durch Russland Einspruch zu erheben und klar zu sehen, welche Partei Vereinbarungen bricht, inklusive des Minsker Abkommens von September. Ich will nicht die ukrainische Seite rechtfertigen. Ich habe unsere Führung offen und oft kritisiert. Aber wir können nicht Kain und Abel gemeinsam die Schuld an dem Konflikt geben. Nicht die ukrainische Armee hat die Grenze überschritten und auf russischem Territorium agiert. Das Zögern des Westens, leider auch des Heiligen Stuhls, Russland als Aggressor zu bezeichnen, der für den Konflikt verantwortlich ist, ist aus meiner Sicht eine Abweichung von der Wahrheit. Verständlich ist das bei Politikern, aber für mich ist das ein Widerspruch in sich, wenn es um den Heiligen Stuhl geht.

KNA: Das orthodoxe Moskauer Patriarchat hat ein Ende der Gewalt in der Ukraine gefordert und die Ukraine als Teil der „russischen Welt“ bezeichnet. Welche Rolle spielt Patriarch Kyrill I.?

Marynowytsch: Er spielt direkt für Putin und unterstützt ihn. Patriarch Kyrill I. hat nie die russische Beteiligung und Verantwortung für den Krieg erwähnt. Er hat nie von Putin verlangt, damit aufzuhören, den Kern des Völkerrechts zu brechen. In seinen Friedensappellen ruft er die Ukrainer immer zur Beendigung eines Bürgerkrieges auf. Das heißt, allen Widerstand gegen den russischen Plan für die Ukraine aufzugeben. Die Haltung des Patriarchen lässt sich so zusammenfassen: De facto segnet er Putins Regierung für die Ausweitung des Konflikts. Der Begriff „russische Welt“ ist nur ein Bild für den typisch imperialistischen Versuch, die unfolgsamen Ukrainer zu zähmen und zurück in den russischen Orbit zu zwingen.

KNA: Patriarch Kyrill I. wirft der mit Rom verbundenen griechisch-katholischen Kirche der Ukraine vor, einseitige politische Erklärungen und nationalistische sowie russlandfeindliche Parolen zu unterstützen. Wie beurteilen Sie das?

Marynowytsch: Die Beschuldigung der griechisch-katholischen Kirche ist seit Jahren eine Methode des Moskauer Patriarchats. Sie ist wirksam, solange die westlichen Christen sie glauben. Die Katholiken des byzantinischen Ritus sind so wenig heilig wie andere Menschen. Wir machen Fehler und sind sündig vor Gott. Indes weigern sich manche orthodoxe Priester des Moskauer Patriarchats, Soldaten der ukrainischen Armee zu beerdigen. Ist das nicht politisch? Ist das nicht antiukrainisch? Alle Sünden der russisch-orthodoxen Kirche werden normalerweise von den westlichen Kirchen nicht beachtet, um die ökumenischen Beziehungen mit Moskau zu bewahren.

KNA: Der kremlkritische orthodoxe Kiewer Patriarch Filaret hat vergangene Woche in Washington die USA gebeten, der Ukraine Waffen zu liefern. Findet diese Bitte Unterstützung in anderen Kirchen der Ukraine?

Marynowytsch: Nein. Ich weiß keinen Kirchenvertreter, der sich Waffen wünscht.