Auslandsakademie von Cusanuswerk in der Ukraine

25 Stipendiaten des Cusanuswerks begaben sich von 16.-29.09.2017 auf eine Reise durch die Ukraine, die einen vielseitigen Querschnitt durch Gesellschaft, Religion, Geschichte und Politik vermittelte. Unter der Leitung von Ruth Jung (Referentin am Cusanuswerk) und der Begleitung von Pfr. Ivan Machuzhak (griech.-kath. Priester) sowie Claudia Gawrich (Osteuropareferentin bei Renovabis) ergaben sich vielseitige und erkenntnisreiche Momente.

Studienreise durch die Ukraine

Čornobyl‘, Orange Revolution, Euromajdan, Krisengebiet, Assoziierungsabkommen – das sind nur ein paar wenige Schlagworte, mit welchen die Teilnehmer der Auslandsakademie vor der Reise in die Ukraine gerüstet waren. Was wissen wir über dieses Land, das nur etwa 2 Flugstunden östlich von Berlin beginnt? Wo bleiben die Menschen in den politischen Auseinandersetzungen zwischen einem Anschluss an Europa und dem Expansionsstreben Russlands? Wo steht die Ukraine nach der Revolution? Wie ergeht es den Menschen in den umkämpften Gebieten?

L’viv, Charkiv und Kiev

Mit L’viv, Charkiv und Kiev bereisten wir drei Städte, die für große, historische Zäsuren stehen. Lemberg – Brücke zu Europa: einstige Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien. Charkiv nahe der russischen Grenze– die russischste aller Städte: die erste Hauptstadt der Sovietukraine und Umschlagplatz zwischen Mittelasien und Europa. Die letzte Station bildete Kiev am Dnepr: Ankerpunkt der Kiever Rus´, moderne Hauptstadt und politisches Zentrum.

Lemberg

L’viv

Die Reise beginnt in L’viv – ein Hauch von Kaffeehauskultur umweht diese Stadt, deren Architektur von der reichen Geschichte zwischen Habsburgmonarchie, polnischer und jüdischer Vergangenheit zeugt. Jurko Prochasko, der literarische, europäische Brückenbauer, versteht sich darauf, uns auf der Lemberger Buchmesse im Potocki-Palais auf diesen Mix einzustimmen. Wir wohnen auf dem Campus der Ukrainischen Katholischen Universität (UKU), die sich in vielerlei Hinsicht von den traditionellen, staatlichen Bildungseinrichtungen abhebt. Zumal die UKU keine staatlichen Mittel erhält und ausschließlich durch Spenden und Zuwendungen, u. a. ebenso von Renovabis, finanziert wird, ist die Universität grundlegend anders strukturiert und durch flache Hierarchien geprägt. Insgesamt herrscht auf dem Campus eine familiäre Atmosphäre. In der Gesprächsrunde mit Dozenten an der UKU sowie in Begegnungen mit Studenten streifen Gespräche die Themen Ausbildung, Korruptionsprävention sowie den Krieg in der Ostukraine – Themen, welche uns über die gesamte Reise begleiten sollten. Wo steht die Ukraine nach der neuen, durch die Revolution der Würde gesetzten „Stunde Null“ auch in Bezug auf territoriale Fragen heute? Der nächste, wichtige Schritt muss es laut Myroslav Marynovyč, Professor an der UKU, sein, eine neue nationale Einheit zu schaffen und die Kämpfe einzustellen. Denn der Krieg mit unabsehbarem Ende reflektiert einen Hemmschuh für jegliche Entwicklung und Reformen, welches dieses Land in Gang setzen muss. Die Studenten an der UKU wollen keine Soldaten werden. Sie wollen ins Ausland und dort studieren, dann zurückkommen, etwas bewegen.

Besonders nach dem Besuch der griechisch-katholischen Kirche, in der Bilder der in der Ostukraine gefallenen Soldaten aufgestellt sind, wird klar, dass sich jener Konflikt im Osten unmittelbar auf das gesamte Land auswirkt. Weinende Witwen und Binnenflüchtlinge – auch im europäischen Brückenland, L’viv, ist der Krieg präsent. Es sind Begegnungen und Gespräche wie mit dem griech.-kath. Priester Stepan Sus, die nachdenklich stimmen. Er erzählt von seiner militärseelsorgerischen Tätigkeit und teils schwierigen Momenten. Was entgegnet man beispielsweise einem Soldaten, der einen Menschen tötet? Wie rechtfertigt man das? Der Mensch greift zur Waffe, um die Seinen zu schützen – wohl eine Frage von Ursache und Wirkung. Aus unserer Perspektive fällt es schwer, dies einzuordnen.

Besonders vor diesem Hintergrund stellt der Besuch in der Bischöflichen Kurie einen äußerst kontrastreichen Programmpunkt dar. Aus dem Gespräch mit dem römisch-katholischen Erzbischof von L’viv und Primas der römisch-katholischen Kirche in der Ukraine, Dr. Mieczyslaw Mokrzycki, konturiert sich angesichts der Vielfalt an Religionsgemeinschaften in L’viv und der Ukraine eine teils schwierige Position der römisch-katholischen Gemeinden.

In der Region L’viv gab es Gelegenheit, in kleinen Gruppen soziale, politische und innerkirchliche Projekte um Lemberg zu besuchen. Renovabis, Caritas und Malteser haben in einzelnen Gemeinden Lembergs soziale Projekte initiiert, die Suppenküchen, Kindertagesstätten, Behindertenheime, medizinische Beratung und Behandlung, psychologische Betreuung von traumatisierten Kriegsheimkehrern, die Betreuung von Eurowaisen und Ausbildungsprogramme organisieren. Es macht demütig, zu sehen, wie viel das Engagement Einzelner bewirken kann und mit welchen teils geringen Mitteln diese Projekte getragen werden. Stets wurde dieser Staat von oben regiert – gerade deshalb sind die Projekte, welche sich um den Aufbau einer Zivilgesellschaft bemühen, äußerst wichtig. Es geht dabei nicht allein um die Hilfe zur Selbsthilfe sondern darum, ein Gespür dafür zu entwickeln, wie das Engagement jedes Einzelnen in der Gesellschaft wirken und wie Demokratie funktionieren kann.

Charkiv

Bereits das monumentale Bahnhofsgebäude von Charkiv kündet bei unserer Ankunft von einem ganz anderen, sovietischen Grundklang hier im Osten des Landes. Keineswegs ist diese Stadt jedoch grau oder farblos – Charkiv empfängt uns als tolerante, offene und lebhafte Stadt, mit deren Bewohnern man rasch ins Gespräch kommt. Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung in Deutschland, pflegen die Menschen hier einen relativ zwanglosen Umgang mit dem Russischen und Ukrainischen – Russisch zu sprechen bedeutet nicht automatisch, pro-russisch oder etwa Separatist zu sein. Das bestätigt sich beispielsweise auch im Gespräch mit dem ukrainischen Schriftsteller, Serhij Žadan, den wir noch am Ankunftstag in Charkiv treffen.

Als nächstes Char`kiv?/ Was hast Du dafür getan, dass Charkiv nicht die nächste Stadt wird?“

Dieser Schriftzug auf einer Plakatwand ist Bestandteil des Dauerprotestes gegen den Konflikt im nahe gelegenen Donbass und Luhansk. Recht unscheinbar steht dieser Posten in Form eines in ukrainische Nationalfarben gehüllten Zeltes mit dem Aufdruck: „Alles für den Sieg“ ganz am äußersten Rand des großen Platzes der Freiheit, den einst eine monumentale Leninstatue dominierte. Ein weiteres Plakat dokumentiert die Ausmaße der Zerstörung in Doneck. Daneben Bilder von Opfern des Krieges und auf Ukrainisch wie auch Russisch Slogans wie „Schütze die Deinen“ oder „Stand near„. Unter anderem wird dazu aufgerufen, Separatisten zu denunzieren. Hier, in Charkiv, nur etwa 50km von der russischen Grenze entfernt, hat der Konflikt eine andere Präsenz. Ähnlich wie in Luhansk und Doneck, hatten Separatisten 2014 erfolglos versucht, auch diese Stadt einzunehmen. Ukrainische und europäische Flaggen, welche die Hauptachsen der Innenstadt, z. B. die Sums’kastraße und die Svobodastraße, säumen, bilden klare politische Bekenntnisse.

In Charkiv ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten des Austausches, z. B. bei der vom DAAD organisierten Rednerwerkstatt, einem anschließenden Umtrunk mit charkiver Studenten oder im Gespräch mit Politikwissenschaftlern, das von der Konrad Adenauer-Stiftung organisiert wurde. Dort wurden politische wie auch wirtschaftliche Aspekte der aktuellen Situation um Charkiv sowie in den Separatistengebieten erörtert. Was will Russland? Welche Veränderungen muss die Ukraine vorantreiben? Fragen nach dem Paradigmenwechsel, Korruptionsbekämpfung wie auch nach dem sinkenden Lebensstandard der Menschen werden thematisiert. Die Menschen sind politikverdrossen und haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren. Die Möglichkeit auf einen Paradigmenwechsel wird somit immer kleiner. Ein Satz, den wir im Verlauf der Reise oft hören sollten, lautet: „the window (of oportunity…) is closing“ – Ist die Möglichkeit auf Veränderung tatsächlich am schwinden?

Im Rahmen einer Exkursion nach Vilča wird der Reaktorunfall von Čornobyl‘ thematisiert. Das ehemals bei Čornobyl‘ gelegene Dorf wurde 1992 nur einen Steinwurf zu Russland entfernt, inmitten eines Paradieses für Angler und Pilzsammler neu aufgebaut. Die damaligen, in Folge der Strahlenkatastrophe umgesiedelten Bewohner Vilčas bieten heute u. a. Hilfe für Binnenflüchtlinge aus den umkämpften Gebieten.

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Kiev

Mit seinem hauptstädtischen Mix aus sakraler Architektur, sozialistischem Klassizismus und kreativem Schaffen scheint Kiev irgendwo zwischen Berlin und Byzanz zu schweben. Von der Hl. Sophia bis zum Kunst- und Kulturzentrum Izolacija werden wir von wirkmächtigen Kulissen umströmt. Mehrfach ergeben sich spannungsgeladene Momentaufnahmen, wie z. B. im Höhlenkloster, in welchen sich die mehr als tausendjährige Geschichte verdichtet und in lauten, übersättigten Kollagen aus Mama Rodina, Zuckerbäckerstil, sakralen Klängen und Fabrikbauten am Dnepr entlädt.

Wir wohnen im Hotel Ukrajna, dem ehemaligen, sovietischen Gästehaus direkt am Majdan, wo sich 2014 die Revolution der Würde zutrug. Vom Hotel aus blickt man auf den Slogan „Freiheit – das ist unsere Religion!“ Bilder von Opfern der Revolution säumen die Straßen. Die politische Auseinandersetzung mit der Ukraine bildet in Kiev den Anknüpfungspunkt für Treffen mit verschiedenen Interessensvertretern. Es sind weitere Begegnungen mit Künstlern, Angehörigen von Kirchen, parteilichen Vertretern und internationalen Organisationen, welche die Eindrücke aus den anderen Städten komplettieren.

Die Mission von Transparency International in der Ukraine ist es, die Korruption in der Ukraine einzudämmen, indem Transparenz sowie die Integrität staatlicher Behörden wie auch der Zivilgesellschaft gefördert werden. Ein wichtiger Bestandteil ist hierbei unter anderem die Überwachung des Beschaffungswesens im Projekt Dozorro. Wie wir beispielsweise in L‘viv erfahren konnten, ist die L’viver Stadtverwaltung im Kontext der Korruptionsbekämpfung bereits den Weg gegangen, ihren Mitarbeiterstab altertechnisch zu verjüngen und höhere Gehälter zu bezahlen. Am vorletzten Reisetag finden zwei weitere Treffen mit dem Kulturreferenten der Deutschen Botschaft in der Ukraine und wenig später, mit Alexander Hug, dem Principal Deputy Chief Monitor of the OSCE SMM statt. Der Besuch im Büro der OSZE beeindruckt nachhaltig. Diskussionsbedarf wecken an diesem Tag weniger die Positionen einzelner Referenten, sondern die individuellen, gewiss auch idealistischen Beweggründe, als Vertreter von Transparency International oder aber der OSZE in der Ukraine tätig zu sein.

Den letzten Aspekt unserer Reise bildet der Besuch der Gedenkstätte Babyn Jar. Still, fast heimlich wird hier am offiziellen Gedenktag, dem 29.09., der Opfer der Massenmorde zwischen 1941-1943 gedacht. An diesem und dem darauf folgenden Tag waren hier 1941 an der Babyn Jar, der Weiberschlucht, zehntausende Juden zusammengetrieben und ermordet worden. Bis 1943 erfolgten hier weitere Massaker an Kriegsgefangenen und Zivilisten. Porošenko macht aus dem nationalen Gedenktag eine Veranstaltung für selektiv geladene Gäste und lässt sich durch Soldaten von weiteren Besuchern abschirmen. Still und schwebend wirkt dieser Park. Es ist jedoch nicht der Ort selbst, der ein schales Gefühl hinterlässt. Dem gesamten Setting haftet etwas Surreales an.

In der kleinen Holzkapelle am Chreščatik, der das Interieur des 2014 am Majdan improvisierten Gebetszeltes enthält, feiern wir gemeinsam den Abschiedsgottesdienst. Wir sind wehmütig darüber, dass diese Reise bereits hinter uns liegt und dass wir beeindruckende und inspirierende Menschen hinter uns lassen. Aber wir sind dankbar um den Erkenntnisgewinn und einen veränderten Blickwinkel.

Дякуємо дуже! До Побачення.

Dr. Regina Uhl