Bischof Bohdan Dzyurakh: „So etwas darf doch nicht passieren im Europa des XXI. Jahrhunderts!“
10.03.2022
Statement
von Bischof Dr. Bohdan Dzyurakh CSsR,
Apostolischer Exarch für die Ukrainer
des byzantinischen Ritus in Deutschland und Skandinavien,
im Pressegespräch zur Situation in der Ukraine
(am 9. März 2022 in Vierzehnheiligen)
„Die Ukraine wird vor den Augen der Welt gekreuzigt“
Es sind fast zwei Wochen, seit Europa in einer anderen Realität aufgewacht ist: in der Realität des Krieges − während wir in der Ukraine bereits seit acht Jahren jeden Tag mit dieser Realität konfrontiert werden. Die Bilder der in Schutt und Asche gelegten Dörfer und Stadtviertel, der getöteten Zivilisten, darunter Kinder und Frauen, der zerstörten Infrastruktur und des angegriffenen Atomkraftwerks in Zaporizhzhja erschüttern die Herzen und wecken die Gewissen der Europäer: So etwas darf doch nicht passieren im Europa des
XXI. Jahrhunderts!
Es ist aber geschehen und geschieht weiterhin vor unseren Augen. „Vor den Augen der ganzen Welt wird die Ukraine gekreuzigt“ (Metropolit Borys Gudziak aus Philadelphia, USA), vor den Augen der Welt geschieht ein Akt des Staatsterrorismus. Und diejenigen, die man gestern noch als Politiker betrachtet hat und mit denen man Verhandlungen zu führen versucht hat, sind zu reinen und skrupellosen Kriegsverbrechern geworden, vor denen man die Menschheit schützen muss. Die schrecklichen und erschütternden Bilder aus der Ukraine sind aber, wenn man sich gut erinnert, den Europäern nicht ganz unbekannt − und es ist hier nicht die Rede von Dokumentarfilmen über den Zweiten Weltkrieg, die im deutschen Fernsehen fast jeden Tag gezeigt werden. Solche Bilder kennen wir alle aus Tschetschenien, aus Syrien, aus Georgien, wo dieselbe verbrecherische Hand am Werk war und von den Verantwortlichen für den Frieden in der Welt nicht aufgehalten wurde. Heute ernten wir die blutigen Früchte der Gleichgültigkeit, die nicht weniger tötet als konventionelle Waffen. Deshalb war es höchste Zeit, dass Europa endlich aus der Lethargie der Gleichgültigkeit erwacht ist, und es darf auch nicht mehr in einen solch gefährlichen Zustand zurückfallen.
Strom der Flüchtlinge und Besorgtheit bei den Gläubigen
Aus der Ukraine strömt ein ununterbrochener Fluss von Flüchtlingen nach Westen. Nach den Einschätzungen der UNO waren es bereits vor einer Woche ca. 1,5 Millionen und diese Zahl wächst mit jedem Tag, mit jeder Bombardierung und jedem Militärangriff auf Dörfer und
Städte. Tausende von Menschen sind bereits auch in Deutschland angekommen. Die Menschen kommen aus allen Teilen der Ukraine, da es in der Ukraine keinen sicheren Ort mehr gibt.
Die Mitglieder unserer Pfarrgemeinden hier in Deutschland und in den skandinavischen Ländern machen sich große Sorgen über die allgemeine Lage in der Ukraine, aber auch über das Schicksal ihrer Verwandten und Freunde, die dortbleiben und ständiger Gefahr ausgesetzt sind. Bei unserer Kathedrale habe ich einen Mann getroffen, der aus dem Gebiet von Odessa stammt. Er und seine damalige Frau waren nach Deutschland gekommen, um hier zu arbeiten, und hatten ihre beiden Kinder bei der Großmutter in der Ukraine gelassen. Jetzt macht sich der Mann große Sorgen um seine Kinder, weil sie noch in der Ukraine sind und er nicht zu ihnen kann …
Humanitäre „Mobilisierung“ in den Pfarreien und Dank für die Solidarität
Obwohl in der Heimat und in den Herzen Ungewissheit herrscht, lassen wir uns weder in der Ukraine noch hier in Deutschland von der Angst lähmen. Wie ein deutscher Unternehmer beim sonntäglichen Gottesdienst gesagt hat: „Uns fehlen die Worte angesichts von solchen Gräueltaten, die gegen das ukrainische Volk begangen werden, aber wir dürfen nicht sprachlos bleiben!“
Unsere Pfarrgemeinden sind zu Anlaufstellen geworden, die die Flüchtlinge oft als Erstes im Internet finden und wo sie um Hilfe bitten. Vom ersten Tag an wurden die Gemeinden auch zu Zentren, in denen humanitäre Hilfsgüter gesammelt und in die Ukraine transportiert werden.
Allein aus der Pfarrei Maria Schutz in München, unserer Kathedralpfarrei, werden seit 28. Februar täglich ca. sieben Minibusse und sechs LKWs mit Tonnen von Hilfsgütern (Lebensmittel, Kleidung usw.) in die Ukraine geschickt (am 3. März waren es sogar neun LKWs!), mehrere Freiwillige bedienten unsere Telefone, um Tag und Nacht Anrufe entgegenzunehmen und notwendige Informationen zu erteilen, über 400 Freiwillige, darunter auch viele Deutsche, haben die Güter verpackt und Hunderte von deutschen Familien, Klöster und Pfarreien haben sich bei uns gemeldet und ihre Hilfe angeboten sowie ihre Bereitschaft erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen, zumindest für die ersten Wochen oder Monate. In München haben wir bereits 80 Flüchtlingsfamilien auf diese Weise helfen können. Ähnlich ist die Situation in allen unseren Gemeinden hier in Deutschland und in Skandinavien …
Überall und auf allen Ebenen sehen wir eine beeindruckende Solidarität und Unterstützung – politisch, gesellschaftlich, kirchlich und menschlich. Für all die Beweise des Mitgefühls und der Solidarität möchte ich mich bei Ihnen allen im Namen unserer Kirche und unseres Volkes auf Tiefste bedanken und unser herzliches „Vergelt´s Gott!“ sagen!
Aufruf zur weiteren Solidarität und zu gemeinsamem Handeln
Das Oberhaupt unserer Kirche, Großerzbischof Sviatoslav Shevchuk, hat in einem Video aus der Hauptstadt Kiew vor ein paar Tagen gesagt: „Die Ukraine kämpft. Die Ukraine siegt, aber wir bitten die Welt, sich mit uns zu solidarisieren und nicht zu schweigen, denn das Wort rettet,
das Wort schafft Frieden. Schweigen und Gleichgültigkeit tötet“, und dann appellierte er an alle, die der Ukraine und unserem Volk helfen können: „Heute bitte ich alle, die uns hören, alle, die unsere Stimme aus unserem blutgetränkten Kiew vernehmen können – kämpfen Sie für den Frieden, setzen Sie sich für diejenigen ein, die Ihre Hilfe brauchen. Leisten Sie alles, um den Angreifer aufzuhalten und ihn zum Verlassen des ukrainischen Landes aufzufordern. Wer auch immer Sie sind, ob Sie Staats- oder Parlamentsoberhäupter sind, ob Sie Politiker, Militär, Kirchenvertreter sind, leisten Sie Ihren Beitrag – sagen Sie Ihr Wort zur Unterstützung der Ukraine!“
Ich bitte Sie, sehr geehrte Journalistinnen und Journalisten, Zeugen der Wahrheit zu werden und das Gewissen der Öffentlichkeit und der Verantwortlichen wachzurütteln. „Es gibt keine Neutralität. Wer neutral ist, entscheidet sich für die Seite der Unterdrücker“, sagte mit Recht
Desmond Tutu, und das gilt insbesondere in solchen Stunden der Wahrheit, wie wir sie heute erleben.
In russischen Medien, sowohl in Russland als auch im Ausland, war seit Jahren eine gnadenlose und rücksichtslose Propagandamaschine am Werk, im Vergleich zu der selbst Goebbels wie ein Anfänger wirkt. Der heilige Johannes Paul II. hat in seiner Botschaft anlässlich des
50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa Propaganda als „mörderisches Kriegswerkzeug zur umfassenden Anwendung“ bezeichnet, dessen Aufgabe er wie folgt beschrieb: „Bevor man den Gegner mit den Mitteln der physischen Zerstörung heimsuchte,
versuchte man ihn moralisch zu vernichten durch Verleumdung, falsche Anschuldigungen, Lenkung der öffentlichen Meinung in Richtung unsinnigster Intoleranz, durch jede Form von Indoktrination, besonders gegenüber der Jugend.“ Mit solchen Medien-Angriffen wurde der gegenwärtige Krieg jahrelang vorbereitet und wird er auch jetzt noch täglich begleitet.
Diesen Waffen, die die Gewissen der Menschen zerstören, müssen wir das Zeugnis der Wahrheit und den gemeinsamen Einsatz für den Frieden entgegensetzen. Nur die Wahrheit wird uns befreien, nur gemeinsames solidarisches Handeln kann das Böse und dessen Folgen
überwinden.
Last but not least: Versöhnungshorizonte sehen und den Weg der Versöhnung einschlagen
Inmitten der heutigen Bedrängnis wollen wir als Kirche Brückenbauer und Wegweiser für das Volk bleiben. Deshalb liegt es uns am Herzen, bereits jetzt die Wege der zukünftigen Versöhnung zu sehen und einzuschlagen. Denn wir erinnern uns sehr gut an die Worte des heiligen Johannes Paul II.: „Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Es gibt aber keine Gerechtigkeit ohne Vergebung.“
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
+ Bischof Bohdan Dzyurakh