„Auf unseren Friedhöfen ist richtig viel Leben“

Ein Jahr und acht Monate Schreckensnachrichten aus der Ukraine. Wie lässt sich so leben? Und woher kommt die Kraft, dennoch auf einen gerechten Frieden zu hoffen? Der Blick zurück sei keine Option, sagt Bischof Wolodymyr Hruza.

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DOMRADIO.DE: Herr Weihbischof, Sie reisen gerade durch deutsche Bistümer, um Partner und Geldgeber für ein geistliches Rehabilitationszentrum zu finden, das in Ihrer Heimatdiözese für Menschen, die an den Folgen des Krieges leiden, errichtet werden soll. Wie gehen Sie damit um, dass es im Moment keine Perspektive auf Frieden gibt?

Wolodymyr Hruza (Weihbischof im ukrainischen Lwiw/Lemberg): Wir leben von der Hoffnung, auch weil wir keine andere Wahl haben. Zurückzuschauen oder gar aufzugeben ist keine Option. Das würde Perspektivlosigkeit bedeuten. Es gibt schon so viele Opfer in diesem Krieg, so viele gefallene Soldaten.

Daher müssen wir unbedingt nach vorne schauen. Wir hoffen auf einen gerechten Frieden, wenn wir diesen Krieg gewonnen haben werden. Diese Hoffnung trägt uns.

Mir hat zuletzt noch eine Mutter, die um ihren Sohn trauerte, gesagt: Ich kann dieses Leid ertragen, wenn ich weiß, wofür mein Kind sein Leben gegeben hat. Eine unserer größten pastoralen Herausforderungen besteht von daher vor allem in der Aufgabe, die Wunden des Krieges zu heilen, indem wir uns um diese Menschen kümmern.

Täglich finden bei uns Beerdigungen von gefallenen Soldaten statt. Solche Feiern sind für uns alle mehr als nur ein kirchliches Ritual. Hinter jedem Toten stehen ja Frauen, Mütter, Kinder… meist viele Angehörige. Daher bieten wir regelmäßig ein zentrales Gebet für die Hinterbliebenen genau da an, wo unsere Soldaten liegen: auf einem inzwischen riesigen Arreal unseres Friedhofs, wo Familien ihre Väter, Söhne und Brüder begraben haben.

Vor allem abends, wenn die Menschen von der Arbeit kommen, ist da richtig viel Leben, weil sich die Angehörigen um ihre Toten versammeln. Dann ist unsere Aufgabe als Seelsorger, an der Seite dieser Menschen zu sein – und wenn es nur schweigend ist. Es braucht bei diesem kollektiven Gedenken nicht viele Worte, keine große Theologie. Wichtig ist oft, nur da zu sein.

Außerdem bieten wir den betroffenen Familien Einkehrtage, Wallfahrten und Exerzitien an, damit sie in der Gruppe Solidarität erfahren. Denn viele Menschen eint derselbe Schmerz des Verlustes; sie fühlen sich unter Gleichbetroffenen am besten verstanden.

Dabei beobachte ich immer wieder, dass Menschen, die an Gott glauben, ihr Schicksal leichter ertragen. Der christliche Glaube hilft ihnen, das Schlimmste auszuhalten, in dieser verzweifelten Lage zu überleben.

DOMRADIO.DE: Wie wirkt sich der Krieg auf den Alltag in Lwiw, das ja nicht einmal 100 Kilometer entfernt von der Grenze zu Polen liegt, aus? Worunter leiden die Menschen am meisten?

Hruza: Inzwischen gibt es keinen sicheren Ort mehr in der Ukraine. Auch nicht im Westen, selbst wenn es dort etwas ruhiger ist. Man weiß nie, wann und wo die nächsten Raketen einschlagen. Zuletzt hatten wir ein paar Wochen mal keinen Alarm. Aber beim Zubettgehen fragt man sich automatisch immer: Wie wird wohl die Nacht werden?

Mit dieser Angst schlafen die Menschen ein, vor allem auch die Kinder, die ja zum Teil überhaupt nicht verstehen, was da passiert, und deren Eltern immer so voller Sorge sind. Wie oft wurden sie nachts schon aus dem Schlaf gerissen, um in einen der Schutzbunker zu flüchten, als die übrigens auch unsere Kirchen dienen.

Trotzdem versuchen wir, unseren Alltag so normal wie möglich zu leben. Die Bewohner von Lwiw gehen zur Arbeit, es finden Kulturveranstaltungen statt. Schließlich ist diese Ablenkung wichtig und bedeutet auch Stärkung. Aber natürlich hört damit das Leid nicht auf.

Das Schlimmste ist, wenn die Gefallenen von der Front zurückkehren. Und dann die Tatsache, dass viele Menschen Angehörige an der Front haben und um sie bangen. Besonders furchtbar ist auch, wenn jemand vermisst wird. Das ist kaum zu verarbeiten. Denn diese Ungewissheit, ob der Vermisste tot ist oder irgendwo in Haft sitzt, zermürbt und führt die Familien an den Rand totaler Erschöpfung.

Auch ich habe Mitbrüder in meinem Orden der Redemptoristen, die im Süden des Landes verschleppt wurden. Dass wir schon so lange keine Nachricht mehr von ihnen haben und wir absolut nichts von ihnen wissen, ist das Schlimmste. Uns bleibt nur, immer wieder für sie zu beten.

DOMRADIO.DE: Haben Sie Sorge, dass der neu ausgebrochene Krieg im Nahen Osten den Krieg in der Ukraine überlagert und sich gerade alles auf die Gräueltaten in Israel konzentriert, das Leid Ihrer Landsleute eher in den Hintergrund gerät?

Hruza: Wenn wir solche Nachrichten wie die aus Nahost hören, ist das wie eine frische Wunde. Denn davon betroffen ist ja nicht nur ein einzelnes Land, sondern die ganze Menschheit – biblisch gesprochen alle Glieder eines Leibes. Mit jedem neuen Krieg wird unsere Weltordnung zerstört.

Die Problematik, die aus einem einzelnen Konflikt entsteht – Migration oder Hungersnot – spürt man überall. Bei einem Krieg gibt es nun mal keinen Sieger. Und jeder einzelne, der leidet oder sein Leben verliert, berührt mich zutiefst. Für uns ist Krieg nichts Abstraktes. Wir in der Ukraine wissen nur allzu konkret, wie das ist.

Immer wieder sagen mir alte Menschen, dass nun die Generation der Kinder erlebe, was schon die Großeltern im Zweiten Weltkrieg erlebt hätten: nämlich das Russland erneut der Aggressor ist. Wer hätte für möglich gehalten, dass wir jemals Krieg im eigenen Land haben würden!

Konkret zu Ihrer Frage: Wir dürfen das eine Leid gegen das andere nicht ausspielen. Es gibt keine Prioritätenliste: Leid bleibt immer Leid, egal wo. Und Leid kennt keine Konkurrenz, nur Solidarität.

DOMRADIO.DE: In vielen Familien fehlen die Väter und Brüder, die an der Front kämpfen. Manche kommen nie mehr nach Hause. Haben Sie angesichts dieser unfassbaren Trauer für die Angehörigen überhaupt noch Worte des Trostes?

Hruza: Wie gesagt, ich bezweifle, dass es vieler Worte bedarf. Meine Aufgabe als Seelsorger sehe ich darin, eine Perspektive aufzuzeigen, dass es eines Tages Heilung geben kann. Wir sollten nicht in Zorn und Hass verharren – das kostet ungemein viel Kraft, die stattdessen zum Weiterkämpfen benötigt wird. Hass macht den Schmerz eher noch größer. Wir müssen unsere ganze Energie in Mut verwandeln. Dabei versuche ich zu helfen.

Wir weinen mit den Weinenden und trauern mit den Trauernden. Das ist Seelsorge. Der Krieg hat uns gelehrt, uns dem, was dran ist, anzupassen, flexibel zu sein. Was gestern noch als sicher galt, ist heute obsolet. In Lwiw haben wir eine Garnisonkirche, weil bei uns die Militärseelsorge angesiedelt ist.

Und täglich halten unsere jungen Militärkapläne die Beerdigungen der Soldaten – oft von Gleichaltrigen – ab. Das heißt, auch sie brauchen einen Halt, Supervision, den Austausch mit anderen Seelsorgern, weil das ja etwas mit ihnen macht, an die Substanz geht. Solche Beerdigungen kann man nicht unter Routine abhaken, das sind zutiefst existenzielle Erlebnisse.

Neulich habe ich einen Jungen auf dem Grabstein seines Vaters sitzen gesehen. Ich fragte ihn, was er einmal werden wolle. „Soldat“, antwortete er, ohne zu überlegen. „Wie mein Vater. Denn der ist ein Held“. Man muss sich klar machen, solche Kinder wachsen über viele Jahre im Kontext des Krieges aus, denn der Kampf der Verteidigung unseres Landes hat ja nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen.

Wir befinden uns bereits seit acht Jahren im Krieg, denkt man an die Eroberung von der Krim und Teilen des Donbass in der Ostukraine. Und vielleicht können Kinder nur damit weiterexistieren, wenn sie den Vater als Kriegshelden verehren. Nochmal: Wir dürfen Hass dauerhaft keinen Raum geben, sondern müssen zur Liebe zurückkehren – auch wenn das leichter gesagt als getan ist.

DOMRADIO.DE: Haben Sie selbst Angst – zum Beispiel davor, ebenfalls eingezogen zu werden? Geistliche sind ja nicht unbedingt vom Militärdienst freigestellt…

Hruza: Da gibt es keine klare Regelung, ob auch Geistliche an die Front müssen. Mit 47 Jahren bin ich grundsätzlich natürlich kampftauglich. Tatsache ist, dass Priestern in diesem Krieg eine andere wesentliche Rolle zukommt, indem sie die Gefallenen würdig begraben und den Hinterbliebenen Trost spenden.

Hinzu kommt, dass unsere Kirchen und Pfarreien inzwischen zu Sozialstationen geworden sind, wo Menschen Hilfe, besonders aber seelsorgliche Unterstützung bekommen.

Nein, ich selbst habe keine Angst. Vielmehr spüre ich eine starke Verantwortung für meine Mitbrüder im priesterlichen Dienst und alle Menschen, die mir anvertraut sind. Dass ich eingezogen werde, glaube ich nicht, da Priester keine Waffen in die Hand nehmen müssen.

Wir haben unsere eigene Mission. Schließlich ist unsere christliche Kirche, die bis 1990 in der Sowjetunion verfolgt wurde, selbst nach über 30 Jahren noch in der Entwicklungs- und Aufbauphase. Hierbei werde ich vorrangig gebraucht.

DOMRADIO.DE: Kommen Ihnen nicht manchmal Glaubenszweifel, so dass Sie sich fragen, wie Gott diesen furchtbaren Krieg überhaupt zulassen konnte?

Hruza: Ich kann mit Gott streiten, mich mit ihm auseinandersetzen. Und er allein kann diesen Krieg auch beenden. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass er diesen Krieg nicht wollte. Krieg ist Menschenwerk. Und wenn ich einmal zweifle, dann versuche ich, in diesen Zweifeln den Weg zum Glauben zu finden.

Meine Sorge gilt da mehr den Menschen: dass sie sich von Gott abwenden. Aber im Moment erlebe ich eher das Gegenteil: In den Schmerzen dieses Krieges werden Kinder geboren, es wird geheiratet. Gleichzeitig werden an so vielen Orten unschuldige Menschen begraben wie Jesus Christus damals unschuldig ans Kreuz genagelt wurde. Aber ich bin gewiss: Er wird auch mit ihnen auferstehen.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt die Kirche in diesem Krieg?

Hruza: Die Kirche hat immer die Aufgabe zu dienen. Klar erwartet man von ihr humanitäre Hilfe, aber sie hat mit den heiligen Sakramenten noch viel tiefere Schätze.

Im Krieg ist die Kirche zu einem Zufluchtsort geworden, und es gibt heute ein viel intensiveres Gebetsleben als vor dem Ausbruch des Krieges. Nachdem die Menschen in der Pandemie die Kirchen verlassen hatten, hat der Krieg sie nun zurück in die Kirchen geholt.

DOMRADIO.DE: Stimmt dann das Wort: Not lehrt beten?

Hruza: Die Menschen begreifen mit der Zeit, Gott ist die einzige Zuflucht. Es gibt keinen anderen Ausweg. So paradox das klingt: Jede Beerdigung, bei der meist viele junge Leute sind, weil eben vor allem auch jüngere Männer sterben, ist ein Manifest des Lebens.

Und diese jungen Menschen, die an der Beerdigung teilnehmen, lernen zu schätzen, wofür der Verstorbene sein Leben gelassen hat, und versammeln sich an seinem Grab, wo sie beten.

Es gibt eine große Anteilnahme. Unsere Toten sind nicht vergessen. Wenn hinter einem Sarg eine lange Prozession durch die Straßen zieht, knien die Menschen am Straßenrand nieder. Das ist jedes Mal sehr bewegend.

DOMRADIO.DE: Was gibt Ihnen Hoffnung und Zuversicht?

Hruza: Der christliche Glaube mit seinem Ostergeheimnis. Daraus beziehe ich alle meine Kraft, denn wir haben eine enorme Verantwortung gegenüber den Opfern und kein Recht, verbittert zu sein. An uns wird es sein, dieses Land nach aller Zerstörung wieder aufzubauen.

DOMRADIO.DE: Was für ein Land wird die Ukraine nach dem Ende dieses schrecklichen Krieges mit zigtausenden Toten, Gefolterten, Verschleppten und Versehrten sein?

Hruza: Das kann niemand sagen. Sicher aber ist, dass wir viel Zeit brauchen werden, die Wunden zu heilen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind sehr motiviert. Unsere Soldaten sagen: Wir kämpfen nicht gegen die, die vor uns stehen, sondern für die, die hinter und sind: Mütter, Kinder, Angehörige aller Generationen.

Hinzu kommt, auch die Wahrheit ist diesem Krieg zum Opfer gefallen. Jeder hat seine Sicht auf die Dinge und vieles ist Kriegspropaganda. Da hat es die Wahrheit sehr schwer.

Tatsache ist, alle in diesem Land warten auf den Sieg und einen gerechten Frieden. Tatsache ist aber auch, dass wir sehr traumatisiert sind, die Zerstörung unbeschreiblich ist. Viel wird davon abhängen, wie effektiv wir als Gesellschaft und Kirche in der Lage sein werden, die erlittenen Wunden wieder zu heilen. Dabei ist Vergebung ein sehr schwieriges Thema.

Und sie gelingt nur, wenn klar ist, wer Opfer und wer Täter ist. Zunächst müssen vor allem die Gräueltaten aufhören. Und dann müssen wir daran arbeiten, Hass in Mut zu verwandeln. Solange aber werden wir in diesem Krieg ausharren und uns verteidigen.

Und wenn wir beten, beten wir auch für die Bekehrung Russlands – genauso wie es die Gottesmutter schon in Fatima getan hat. Wir glauben an das Leben. Auch auf unseren Friedhöfen ist das Leben. Das Leben lebt auch im Krieg.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

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